Montag, Mai 07, 2012

Noch einmal Higgs

Riskiert man es, eine übergroße Wissenschaftsgläubigkeit zu kritisieren, sind sie wieder da: die Einwände, man sei wissenschaftlich wohl zu unbedarft, verstehe das alles nicht, sei überheblich. Tenor: du (miss)brauchst Gott als Kompensierung deines eigenen Unverständnisses. Ein schwacher Tenor. Es ist wieder und wieder die alte Leier: Glaube sei die Instanz, mit der man sich das zurechtglaubt, das zu erkennen man nicht in der Lage ist.
Ja, genauso kommt es mir vor: wie ein schlechter Tenor mit einer alten Leier, der in den Straßen herumsingt, er wisse, warum Christen blöd sind.

Nun hat sich mit der Suche nach dem Higgs-Boson eine Sache grundlegend geändert. Bislang konnte sich die Wissenschaft immer hinter ihrer eigenen Unvollkommenheit verschanzen: Wir wissen es zwar noch nicht, aber wir werden es wissen! „Noch“ war das Zauberwort. Auf diesen Zauberspruch wollen manche in Zukunft verzichten, indem sie ankündigen, das Urteilchen nachzuweisen, auf das alle materiellen und energetischen Eigenschaften zurückgeführt werden können. Sollte das gelingen – und es ist durchaus möglich und wahrscheinlich, dass es gelingt – hat sich die Wissenschaft gewandelt. Die Grenze ist erreicht. Selbstverständlich ist innerhalb dieses physikalischen Rahmens noch Ungezähltes zu entdecken und zu begreifen. Keinesfalls wäre die Naturwissenschaft am Ende. Sie hätte sich jedoch ihre Grenzen gesetzt: nicht, indem sie sagt, hier könne sie nicht weiter, sondern indem sie sagt, ab hier gebe es kein weiter. Nur dieses Teilchen fehlt noch im Erklärungsmodell. Wen wundert es, dass das Teilchen populärwissenschaftlich das „Gottesteilchen“ genannt wird.

Sollte diese grandiose wissenschaftliche Leistung gelingen, der Nachweis eines Teilchens, dass durch seine Eigenschaften die Lücke schließt und so die Grundlagen aller Physik erklärbar macht, steht die Wissenschaft vor einer grundsätzlichen Entscheidung zwischen zwei Alternativen:

1) Wird dann noch gefragt, warum das Higgs-Boson gerade so ist, wie es ist, erklärt das Teilchen gar nichts. Die Forschungsebene hat sich nur ein wenig verschoben. Diese Richtung würde bedeuten, dass es wissenschaftlich keine letzte Erklärung gibt: dieses Spiel lässt sich unbegrenzt fortsetzen. Die Wissenschaft hätte sich auf diese Weise selbst als die Dinge letztlich nicht erklärend definiert. Die Antwort der Wissenschaft auf die Große Frage wäre: „Wer den letzten Grund erfahren will, braucht mehr als mich.“
2) Wird tatsächlich verkündet, das Teilchen ermögliche die Erklärung von allem (und etliche Forscher scheinen genau das zu erwarten), wäre die Wissenschaft von der Froschungstiefe her am Ziel angelangt: das ist es, so sieht es aus. Alle weitere Forschung spielt sich innerhalb dieses Rahmens ab. Fragen, die sich darin nicht erklären lassen, müssten als falsch gestellt oder aber negiert werden. Die Antwort der Wissenschaft auf die Große Frage wäre dann: „Fragen außerhalb meines Definitionsbereiches verbiete ich.“

Oft wurde versucht, Religion, die große Suche nach Erkenntnis, in Wahrheit als das Resultat einer Angst vor Erkenntnis abzutun. Die Frage der Wissenschaft an den Glauben war immer: „Was, wenn wir alles erklären können?“ Jetzt macht sie den ernsthaften Versuch, genau das zu tun. Und der Glaube fragt zurück: „Genau – was dann? Was, wenn du alles erklärst, und meine Fragen verlassen deinen selbstgesteckten Rahmen?“

6 Kommentare:

  1. Der Trick dabei ist, das man (also normale Menschen und auch Fachleute) auch wenn sie das Higgs Teilchen nachweisen immer noch genauso viel kapieren wie vorher.
    Man hat, nach Dürrenmatts "Physiker" ja irgendwie den Horror, das man wenn man die "Urformel" fände, alles und jedes kontrollieren und manipulieren könnte.
    Aber so eine Formel ist dann wider so komplex, das das ja wenig nutzt.
    Beispiel2 Komplett alle elektrischen und magnetischen Phänomene werden durch die Maxwellschen Gleichungen beschrieben
    http://homepage.swissonline.ch/philipp.wehrli/Physik/Klassische_Physik/Maxwell-Gleichungen/Maxwellgleichungen.JPG
    Obwohl wir mit diesen 4 im Prinzip verblüffend einfach darstellbaren Gleichungen, alles wissen was es über Elektrizität zu wissen gibt, gelingt es uns immer noch nicht so locker flockig, genug elektrische Energie auf umweltverträgliche Art zu erzeugen.
    Von daher, stehen wir mit und ohne Higgs Teilchen immer noch da 'und sind so schlau, als wie zuvor'

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  2. Anonym2:26 AM

    Auch wenn das Higgs-Teilchen das letzte Puzzle-Teil im Standardmodell der Teilchenphysik ist, so weiß man schon seit längerem, dass das Standardmodell unvollständig ist, auch wenn damit sich vieles prima erklären und berechnen lässt.

    So sind z.B. die Neutrinos im Standardmodell masselos, experimentell sieht man aber Neutrinooszillationen, was nur möglich ist, wenn Neutrinos massiv sind.

    "Physik jenseits des Standardmodells" versucht dies und die vielen anderen Unzulänglichkeiten des Standardmodells zu erklären.

    Dass mit dem Nachweis des Higgs-Teilchens "die Grundlagen aller Physik" gefunden wäre, oder dass auf das Higgsteilchen als "Urteilchen" alle materiellen und energetischen Eigenschaften zurückgingen, ist allein schon aus physikalischer Sicht falsch.
    Physiker wollen und können damit nicht alles erklären.

    Eine Theorie, welche alle Parameter vorhersagt und alle Kräfte vereinigt, ist noch lange nicht gefunden... Und falls eines Tages dies gelingen sollte, kann man sich immer noch über die im Artikel genannten Alternativen diskutieren.

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  3. Das mit oder ohne Higgs die Physik weder die Welt kontrolliert noch sie erklärt, ist zumindest für mich eine klare Sache.
    Was mir aber interessiert: wird angesichts des hohen Anspruchs, der mit dem Nachweis verbunden ist, nicht langsam klar, dass die Naturwissenschaften niemals in der Lage sein werden, alles zu erklären? Weist die Forschung nicht gerade selber nach, dass sie zu letzten Antworten unfähig ist?
    Auch wenn nach dem Higgs weiter geforscht und entdeckt wird - der Versuch einer endgültigen Antwort der Naturwissenschaften sähe ungefähr so aus wie der Nachweis eines fehlenden Teilchens. Zum ersten mal wird in der Öffentlichkeit ernsthaft diskutiert, man könne nicht nur irgendwann die Grundlagen des Seins erklären, sondern sei im Begriff, das tatsächlich zu tun. Langsam sollte deutlich werden, was für ein Blödsinn das ist.
    Dass Leute mit Sachverstand die Idee einer tatsächlichen umfassenden Erklärung des Alls und des Menschen nicht mittragen, ist mir klar. Aber der Gedanke, es sei möglich, steht nachdrücklich im Raum. Mir geht es darum, aufzuzeigen, dass er in sich unlogisch ist.

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    1. Lieber Bastian,
      zu Deiner Frage: "Weist die Forschung nicht gerade selber nach, dass sie zu letzten Antworten unfähig ist?" Gibt es eine ganz klare Antwort: Nein.
      Bereits als dummer Student - am Anfang des ersten Semesters - wurde uns klar gemacht, was Physik ist: Die Wissenschaft von der unbelebten Natur. Und das grenzt die Fragen, die wissenschaftlich(!) gestellt werden können, sehr stark ein. Eine zulässige Fragestellung ist es "Welche Gesetzmäßigkeit beschreibt das Herunterfallen eines Apfels vom Baum?". Unzulässig hingegen wäre die Fragestellung "Welchen Sinn hat das Herunterfallen?" oder "Warum gibt es Äpfel?".
      Als Physiker stelle ich Fragen, auf die es "letzte Antworten" geben könnte, gar nicht erst. Denn sie gehören nicht in den Teil der Welt, den ich mit Hilfe der Physik beschreiben kann. Den Anspruch, "die Welt zu erklären", hat die Physik schon. Aber immer nur innerhalb des selbst gesteckten Rahmens - der von der "Öffentlichkeit" (bzw. den Medien) gerne ignoriert wird.

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  4. Um es mal salopp auszudrücken, die Leute haben auch und wollen es auch nicht haben, keine Ahnung vom Messen.
    Man kann jede Diskussion chaotisieren, indem man anfängt solche Begriffe wie Messgenauigkeiten und Relevanz von Messergebnissen in das Gespräch zu werfen.
    Die Naturwissenschaften können die Welt innerhalb ihres Rahmens sehr gut erklären, aber die Welt ist größer.

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  5. Anonym11:12 PM

    Eigentlich offtopic, aber ich kann's mir nicht verkneifen: hat die "Froschungstiefe" im vorletzten Abschnitt etwas mit dem bekannten Nickname deines Co-Bloggers zu tun? Oder ist das ein ganz ordinärer Buchstabendreher?
    *razz*

    Biggi

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