Donnerstag, Januar 07, 2016

Worüber reden wir eigentlich?

Es wird immer schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen.
Vergewaltigung und Raub sind Verbrechen. Das ist klar, aber banal. Soweit war ich, ehrlich gesagt, vor Köln auch schon. Doch kaum denkt man nach, wie man damit umgehen soll, bekommt man Gegenwind. Daher verlasse ich einmal das Thema selbst und suche nach einem Beispiel.
(Vorab: nein, ich vergleiche hier nicht Flüchtlinge mit bissigen Hunden, sondern, wenn überhaupt, Räuber, Schänder und Vergewaltiger und habe ein schlechtes Gewissen höchstens den Hunden gegenüber. Ein Hundebiss und eine Vergewaltigung sind nicht vergleichbar! Ich weiß, dass das Beispiel hinkt, und wie, doch ein besseres fällt mir nicht ein. Und irgendwie muss ich meine Gedanken mal ordnen.)

Das Beispiel: eines meiner Kinder wird auf dem Spielplatz von einem Hund aus der Nachbarschaft gebissen. Die erste Frage ist: wie vermeide ich Wiederholungen? Noch bevor ich mich auf die Suche nach Köter und Herrchen begebe, warne ich meine Kinder: „Haltet Abstand von Hunden – hier beißt offenbar mindestens einer. Bis wir den haben, seid vorsichtig!“ Ich würde ehrlich gesagt am Verstand meiner Kinder zweifeln, bekäme ich zur Antwort: „Willst du etwa UNS die Schuld daran geben, wenn wir gebissen werden? Wir dürfen rumlaufen, wo wir wollen!“ Natürlich dürfen sie, aber was, bitte, hat das mit Vorsicht zu tun?
Dann mache ich mich auf die Suche nach dem Vieh. Wo suche ich? Sinnvollerweise bei den Hundehaltern? „Keinesfalls!“ meint mein Nachbar. Das würde die ja schließlich alle unter Generalverdacht stellen. Und es gibt doch so viele gute Hunde und vorbildliche Herrchen! Ich wolle wohl militante Hundegegner stärken? „Oh doch!“ findet hingegen die alte Dame von gegenüber. „Hunde waren mir schon immer verdächtig. Hundehaltung gehört verboten!“
Jetzt reden sie alle durcheinander. „Ich will auf den Spielplatz!“ „Hunde raus!“ „Keine Vorverurteilung guter Herrchen!“

Auf der Polizeiwache erfahre ich nach langem Zögern, dass das Problem bissiger Hunde hier bekannt ist, dass aber die Beamten fehlen, um dem effektiv nachzugehen. Ständig werde das Personal gekürzt. Es sei ziemlich aussichtslos, das Tier zu ermitteln. Andere Eltern melden sich – auch ihre Kinder wurden schon gebissen. Angst macht sich unter Eltern und Kindern breit: die Gefahr ist da, und kann offenbar so einfach nicht beendet werden.
Die Sache beginnt, Kreise zu ziehen. Der Minister weist nach, dass es genug Polizisten gebe. Promis melden sich zu Wort und warnen vor einer „irrationalen Stimmung“ gegen ganze Bevölkerungsgruppen. Abgesehen von der Frage, was denn eine rationale Stimmung sein soll (vielleicht so etwas wie durchdachter Appetit oder gefühlte Logik?): Wer von einem Hund gebissen wurde, hat danach Angst vor Hunden. Wurden in einer Siedlung viele Leute gebissen, macht sich Angst vor Hunden breit. Das ist irrational, aber Fakt. Doch Fakten fangen längst an, unterzugehen.
Hundehalter bekommen Drohbriefe, meine Kinder werden als Tierfeinde beschimpft, jeder beschuldigt den anderen, ihn zu beschuldigen. Leserbriefe werden geschrieben, Podiumsdiskussionen finden statt. Militante Tierschützer werben unerlaubt mit Fotos meiner Kinder gegen Hundehaltung.
Mir bleibt nur eins: ich nehme meine Kinder tröstend in die Arme. Denn sie sind die Leidtragenden.

Manchmal frage ich mich: worüber reden wir hier eigentlich? Aufforderungen zur Vorsicht werden als Schuldzuweisung verstanden. Sinnvolle Suche wird zum Generalverdacht erklärt. Berechtigter Angst wird die Rationalität abgesprochen, die Rationalität hingegen wird ob ihrer Gefühlslosigkeit aufs Schärfste kritisiert. Sind wir noch krisenfähig?

(Und noch einmal: ich bitte jeden um Verzeihung, der sich durch das Beispiel in irgendeiner Weise verletzt fühlen könnte! Es soll KEIN Vergleich sein, sondern eine Parallelkonstruktion, die mir hilft, das Chaos, das ich sehe, zu beschreiben.)

8 Kommentare:

  1. Anonym6:04 PM

    Wenn in einer Siedlung viele Menschen von Hunden gebissen werden, und in dieser Siedlung dann viele Menschen Angst vor Hunden haben, halte ich das nicht für irrational.Ganz im Gegenteil, es wäre irrational, nach zahlreichen Beißvorfällen immer noch freudig auf jeden freilaufenden Hund zuzuspringen. So funktionieren übrigens auch Autoversicherungen und so weiter. Junge, männliche Fahranfänger bauen mehr Unfälle als Frauen mittleren Alters. Die Versicherung ist deshalb für junge Männer, die ihren Führerschein noch nicht lange haben, teurer als für Frauen mittleren Alters, die seit 30 Jahren ihren Führerschein haben (und lange genug unfallfrei sind). Auch, wenn es viele junge, männliche Fahranfänger gibt, die sehr sicher und verantwortungsbewusst fahren, und Damen mittleren Alters, deren Unfallfreiheit weniger an ihren Fahrkünsten als vielmehr an denen der anderen Verkehrsteilnehmer liegt.

    Und so, wie die "Ratschläge" formuliert waren, waren sie nicht vergleichbar mit dem Rat, zu Hunden Abstand zu halten. Sie waren erstens nicht hilfreich- die sexuell mißbrauchten Frauen waren ja ganz überwiegend in Gruppen, teilweise auch in gemischten Gruppen unterwegs, und sie hätten nur zu gerne mehr als eine Armlänge Abstand zu den Tätern gehalten, wenn die das bloß zugelassen hätten, und zweitens waren sie unverschämt, nicht nur aufgrund ihrer Nutzlosigkeit (und damit Gefährlichkeit), sondern weil damit den mißbrauchten Frauen letztlich gesagt wird, wenn sie sich anders verhalten hätten, wären sie ungeschoren davon gekommen. Sprich: selbst schuld.

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    1. Eigentlich veröffentlichen wir hier keine anonymen Kommentare.
      Doch dieser zeigt einen Aspekt gut auf!
      Allerdings: ich bestreite, dass eine Vorsichtsmaßnahme eine Schuldzuweisung beinhaltet. Das halte ich für einen Irrtum und zudem für einen Nebenschauplatz.

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  2. Anonym12:35 AM

    Ich finde ihren Text zur Lage sehr differenziert, vielen dank!
    R

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  3. Anonym7:13 AM

    Ich habe zweimal versucht, zu kommentieren. Wurde offenbar jedesmal rausgekickt, beim Registrieren Mirjam

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    1. Anonym8:09 AM

      Wobei ich nicht Autor der beiden anonymen Texte bin. Ich habe es dann gelassen

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  4. Beispiele können hinken, und wenn sie dem eigenen Verständnis dienen ist das gefährlich.
    Aber ich arbeite mal mit dem Bild.
    Wenn Sie nachdem mehrere Hunde Kinder auf einem Spielplatz anfielen und dabei nicht wenige verletzten eben nicht mit Ihren Kindern sprechen und auch nicht losziehen, sondern erstmal ein paar Tage vergehen lassen, sich dann mit anderen Menschen aus der Wohngegend treffen und anschließend ihren Kindern mittels eines Briefes erklären: falls mehrere Hunde knurrend und kläffend auf sie zurennen sollen sie weglaufen oder versuchen beruhigend auf die Hunde einzureden, und bloß nicht von diesen Hunden auf andere schließen, es handele sich ja offensichtlich nicht um richtige Hunde - würden Sie dann sich nicht selbst merkwürdig vorkommen?
    Frau Reker hat nicht "zur Vorsicht" gemahnt. Sie sagte, und ich fordere Sie nochmal auf sich die Konferenz anzusehen, "Es gibt immer eine Möglichkeit, eine Mindestdistanz zu halten" und sprach dann von der Armlänge, von Bewegung in der Gruppe, von "nicht mit Fremden gehen" und behauptete, es gäbe bereits Verhaltensratgeber und Tipps für solche Situationen.
    Es waren nicht andere, die behaupteten trotz der vorliegenden Einsatzberichte und der erreichbaren Beamten, dass man zwar gar nichts über die Täter wisse, aber man wisse dass es keine Flüchtlinge waren und jede Vermutung in diese Richtung darum unangemessen sei.
    Das sagte sie, nachdem sie eine Konferenz einberufen hatte um einen noch nie dagewesenen Fall von massiertem sexualisierten Übergriff auf eine sehr große Zahl von Frauen zu besprechen.

    Wenn Sie sich ebenso bemühen würden, die Situation an Silvester zu visualisieren, wie Frau Reker Verständnis entgegen zu bringen, wäre ich sehr dankbar.

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  5. Ja, wir haben ein Problem: Worüber reden wir eigentlich? Die einen schreien "Lügenpresse" und ähnliches, die anderen "Dunkeldeutschland" und anderes ähnliches. Und dabei haben wir ein viel tiefergehendes Problem: "Wir" - jedenfalls jene einen und anderen, die ich meine - reden nicht miteinander, sondern nur mit sich selbst.

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