Ich sehe in der Gesellschaft eine grundsätzliche Schieflage, der die Christen bislang eher wenig entgegen setzen.
Derzeit stehen in allen Diskussionen der Mensch und sein Wert im Mittelpunkt. Dabei geht man von eigentlich christlichen Grundlagen aus, wie einer unantastbaren Würde, persönlicher Freiheit und dem Vorrang des Gewissens. Das alles kann ein Christ unterschreiben. Doch plötzlich treiben in der Gesellschaft diese guten Grundsätze Blüten, die nicht mehr zu verantworten sind, wie Euthanasie und Abtreibung. Diskutiert man mit deren Befürwortern, berufen die sich auf dieselben Grundsätze, die uns dergleichen eigentlich unmöglich machen sollten. Es entstehen massive Diskussionen, in denen einer dem anderen die logische Konsequenz abspricht und jeder seine Moral bestätigt sieht. Und die erfahrungsgemäß wenig bis gar nichts bringen.
Der Mensch ist so wertvoll, dass nichts ihm schaden darf, aber nicht aus sich selbst. Er ist wertvoll, weil er geliebt ist. Wäre er letzter Grund in sich selbst, wäre er der Herr über sich selbst, aber er müsste sich auch selbst definieren, und das kann er nicht. Seine Freiheit bedroht sich selbst, das Ungeborene schränkt die Mutter ein und das Leiden die Würde. Die Gesellschaft sucht nach Auswegen und richtet sich notgedrungen gegen die Freiheit selbst. Die Selbstdefinition ist wie ein Hund, der sich in den Schwanz beißt.
Als Geliebter Gottes hingegen ist der Mensch nicht letzter Herr, sondern bezieht seine Würde von außerhalb. Doch diese Würde gibt Halt, denn sie treibt nicht, sondern steht sicher.
An dieser Stelle bleiben die Christen der Welt etwas schuldig, nämlich die Erkenntnis, worum es eigentlich geht. Kein vernünftiger Mensch gibt die Herrschaft über sich selbst auf, ohne dafür etwas Besseres zu bekommen. Kein Mensch tauscht seine Freiheit gegen Enge ein. Doch anstatt zu bezeugen, dass wir Geliebte Gottes sind, die nichts mehr wünschen, als dass alle anderen es auch werden, argumentieren wir mit dem, was man erst als Geliebter überhaupt verstehen kann: Lehre und Regeln. Die vom Gesetz frei gekauft wurden, argumentieren, als sei der Katechismus die neue Gesetzessammlung. Wir sind zum Festmahl eingeladen, doch anstatt unseren Gastgeber auch anderen vorzustellen versuchen wir, ihnen vorab Tischsitten beizubringen.
Wie kann es sein, das wir Eingeladenen vergessen, dass man sich gut benehmen WILL, sobald man diesen Gastgeber auch nur flüchtig kennt?
Ohne die Verkündigung Gottes haben wir der säkularen Gesellschaft nichts entgegenzusetzen. Ich sehe eine große Gefahr darin, dass sich viele Christen in endlosem Ringen um Richtig und Falsch verlieren, weil sie für die Frage „Geliebt oder ungeliebt?“ nicht mehr offen sind.
Ich befürchte, dass diesen ganzen Fragen letztlich zuerst an uns gestellt werden, nicht an die Gesellschaft, die so verloren scheint. Wie gemütlich haben wir es uns in einer „christlichen“ Gesellschaft gemacht, zwischen Wohlstand und geforderten Menschenrechten? Wie sehr verwechseln wir inzwischen unsere eigene Weltanschauung mit dem, der uns senden will? Wie sehr definieren wir „Sendung“ inzwischen selbst und machen uns zum Gesandten in letztlich eigener Sache?
Nicht die Suppe ist schuld, wenn sie nicht salzig ist, weil das Salz schal ist. Nicht die Suppe wird von Christus gewarnt, sondern das Salz. Vielleicht braucht nicht die Gesellschaft eine Reinigung, sondern wir.